Ein Beitrag von Teresa Pfahler und Martin Schmitt
Wer sich im Internet bewegt, muss nicht lange suchen, um ihm zu begegnen: Hass im Netz ist leider ein weit verbreitetes Problem. In Deutschland wurden einer aktuellen Studie zufolge bereits knapp die Hälfte der Internetnutzer:innen in sozialen Medien beleidigt (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 2024). Der weitgehende Verzicht auf Kommentarfilter, wie zuletzt von Facebook und Instagram Chef Mark Zuckerberg angekündigt, könnte dieses Problem noch weiter verschärfen. Doch schon jetzt greift kaum jemand bei Hasskommentaren ein. Warum ist das so? Und was können wir als Nutzer:innen dagegen tun? Die Psychologie bietet für dieses passive Verhalten von Zuschauer:innen einen möglichen Erklärungsansatz: den Zuschauereffekt.

Was ist der Zuschauereffekt eigentlich?
Zeug:innen von Notsituationen werden in der Psychologie als „Zuschauer“ bzw. im Englischen als „Bystander“ bezeichnet. Der Zuschauereffekt besagt: Je mehr Bystander anwesend sind, desto seltener wird in solchen Situationen geholfen (Levine et al., 2023). Die Beschreibung des Zuschauereffekts klingt erstmal ziemlich fies, und die meisten von uns würden wahrscheinlich gegen die Theorie protestieren, weil sie sich selbst als hilfsbereite Person einschätzen. Deswegen direkt eine Entwarnung: die Theorie besagt nicht, dass Menschen aus bösem Willen nicht helfen. Vielmehr ist der Weg zur bewussten Entscheidung „ich möchte helfen“ ein komplexer Prozess, der – wie alles Menschliche – anfällig für Fehler ist. So kann es zum Beispiel sein, dass Menschen das Ereignis gar nicht erst bemerken, es nicht als Notfall erkennen oder Angst haben „falsch zu helfen“ und sich dadurch vor anderen blamieren (Levine et al., 2023). Verschiedene Forscher:innen haben den Zuschauereffekt in den letzten Jahren immer wieder in Studien beobachten können (z.B. Fischer et al., 2011).
Und wie ist das im Internet?
Aber kann man denn im Internet überhaupt von einem Zuschauereffekt sprechen? Wirken im Internet nicht auch andere, „neue“ psychologische Effekte? Dem ist leider nicht so. Auch im Internet haben Forscher:innen die Auswirkungen des Zuschauereffekts gefunden. Eine Studie zeigte, dass Nutzer:innen seltener eingriffen, wenn sie davon ausgingen, dass bereits sehr viele andere Personen einen Hasskommentar (in der konkreten Studie über Flüchtlinge) gelesen hatten (Leonhard et al., 2018). Ähnlich verhielt es sich bei Cybermobbing: Auch in diesem Fall fühlten sich Nutzer:innen weniger verantwortlich einzugreifen, wenn viele Bystander das fingierte Mobbing mitbekamen (Obermaier et al., 2014). Aber natürlich sind Notsituationen und Möglichkeiten zu helfen online und offline nicht 1:1 vergleichbar, z. B. aufgrund der Anonymität des Internets oder der fehlenden Möglichkeit, direkt auf „Täter“ und „Opfer“ einzuwirken. Diese Besonderheiten der Online-Kommunikation können dafür sorgen, dass Zuschauer:innen häufiger, aber auch seltener eingreifen (Obermaier et al., 2015). Einerseits ist man aufgrund der Anonymität im Netz vielleicht eher bereit zu helfen. Schließlich muss man weniger fürchten, dafür verurteilt zu werden. Andererseits denkt man sich vielleicht auch, dass man selbst weniger verantwortlich für solche Situationen ist. Es sind ja noch genug andere online. Ob man eingreift oder nicht, hängt aber auch von anderen Faktoren ab, zum Beispiel davon, wie schlimm wir den Kommentar empfinden (Obermaier et al., 2023). In dieser Studie empfanden die Teilnehmer:innen schwulenfeindliche Hasskommentare beispielsweise als weniger schlimm als Hasskommentare gegenüber Frauen und griffen eher bei letzteren ein.
Aber wie kann man nun den Zuschauereffekt im Netz überwinden?
Gerade im Internet ist es wichtig, dass Dritte eingreifen. Denn auch wenn die Mehrheit der Nutzer:innen sich nicht an Hassrede und Mobbing beteiligen: Im Internet gilt Schweigen als Zustimmung (Obermair et al., 2023) Dazu kommt, dass solche Kommentare viel mehr Menschen erreichen und oft dauerhaft stehen bleiben. Und online wie offline gilt: wer sich verantwortlich fühlt, greift eher ein (Leonhard et al., 2018). Das Verantwortungsgefühl kann dadurch steigen, dass man Kommentare als respektlos empfindet (Obermaier et al., 2023). Wir können uns fragen: „Wenn ich einen
solchen Hasskommentar erhalten würde, was würde in mir vorgehen?“ Es hilft uns zu verstehen, welche negativen Folgen der Hasskommentar haben kann, wenn wir uns in die Rolle des „Opfers“ hineinversetzen. Generell kann es hilfreich sein, Internetnutzer:innen stärker für den Zuschauereffekt zu sensibilisieren und ihre Medienkompetenz zu fördern: Wie können wir Hassrede erkennen? Wie können wir eingreifen, um der angegriffenen Person/Gruppe wirklich zu helfen? Wie schaffen wir es auf den Kommentarschreiber einzuwirken, ohne ihn zu provozieren? (Leonhard et al., 2018). Um diese und weitere Fragen beantworten zu können, bieten Plattformen wie https://hateaid.org/ hilfreiche Tipps und Unterstützung. Dadurch können wir sicher sein, dass wir wirklich „online“ sind und keine Bystander.
Literatur
- Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. (2024, 13. Februar). Hass im Netz gefährdet Demokratie. https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/aktuelles/alle-meldungen/hass-im-netz-gefaehrdet-demokratie-236282
- Fischer, P., Krueger, J. I., Greitemeyer, T., Vogrincic, C., Kastenmüller, A., Frey, D., Heene, M., Wicher, M., & Kainbacher, M. (2011). The bystander-effect: A meta-analytic review on bystander intervention in dangerous and non-dangerous emergencies. Psychological Bulletin, 137(4), 517–537. https://doi.org/10.1037/a0023304
- Leonhard, L.,
- Rueß, C., Obermaier, M. & Reinemann, C. (2018). Perceiving threat and feeling responsible. How severity of hate speech, number of bystanders, and prior reactions of others affect bystanders’ intention to counterargue against hate speech on Facebook. Studies in Communication and Media, 7(4), 555–579. https://doi.org/10.5771/2192-4007-2018-4-555
- Levine, M., Manning, R., & Philpot, R. (2023). Prosoziales Verhalten. In Springer eBooks (S. 351–392). https://doi.org/10.1007/978-3-662-65297-8_10
- Obermaier, M., Fawzi, N., & Koch, T. (2015). Bystanderintervention bei Cybermobbing. Studies in Communication and Media, 4(1), 28–52. https://doi.org/10.5771/2192-4007-2015-1-28
- Obermaier, M., Schmid, U. K. & Rieger, D. (2023). Too civil to care? How online hate speech against different social groups affects bystander intervention. European Journal of Criminology, 20(3), 817–833. https://doi.org/10.1177/14773708231156328









