1. Brauchen wir aus psychologischer Sicht überhaupt Vorbilder – oder können wir auch ohne sie stark werden?
Theoretisch könnten wir ohne Vorbilder stark werden – praktisch wäre das aber, als würde man ohne Landkarte durch unbekanntes Terrain wandern. Vorbilder geben uns Orientierung, motivieren und zeigen, was möglich ist. Die Psychologie spricht hier vom „Modelllernen“ (Bandura, 1977). Wir Menschen sind soziale Wesen – wir lernen, wer wir sein können, indem wir andere beobachten. Im berühmten Bobo-Doll-Experiment von Albert Bandura prügelten Kinder auf eine Puppe ein, nachdem sie gesehen hatten, wie Erwachsene das taten – ganz ohne Aufforderung (Bandura, Ross & Ross, 1961).
Besonders in Phasen von Unsicherheit oder Entwicklung – etwa bei Jugendlichen oder in herausfordernden Lebenssituationen – sind Vorbilder wie psychologische Wegweiser.
2. Was genau passiert in unserem Kopf, wenn wir ein Vorbild haben? Gibt es einen psychologischen Mechanismus dahinter?
Ja, und der ist ziemlich faszinierend! Neurowissenschaftliche Studien zeigen, dass beim Beobachten eines Vorbilds unser Belohnungssystem und die sogenannten Spiegelneuronen aktiv werden (Güroğlu et al., 2023). Das bedeutet: Wenn wir jemanden bewundern, der etwas erreicht hat, wird nicht nur unser Wunsch geweckt, es ihm oder ihr gleichzutun – unser Gehirn „übt“ bereits gedanklich mit.
Zudem stärken Vorbilder unser Gefühl von Selbstwirksamkeit – das ist der Glauben, Herausforderungen selbst aus eigener Kraft bewältigen zu können (Benet-Martínez et al., 2021). Wer sieht, dass jemand einen schwierigen Weg gegangen ist, glaubt eher daran, ähnliche Hürden überwinden zu können. Das bedeutet, dass inspirierende Vorbilder helfen können ehrgeiziger eigene Ziele zu verfolgen und resistenter zu sein.
3. Warum sind gerade starke Frauen so wichtige Vorbilder – nicht nur für Frauen, sondern auch für Männer?
Weil sie gesellschaftliche Bilder verschieben. Über Jahrhunderte waren Vorbilder in vielen Bereichen – Wissenschaft, Politik, Wirtschaft – männlich geprägt. Starke Frauen als Vorbilder erweitern unser kollektives Verständnis davon, wer „Erfolg“ haben oder „Führung“ übernehmen kann.
Studien zeigen, dass Diversität bei Vorbildern stereotype Denkmuster abbauen kann – sowohl bei Frauen als auch bei Männern (Cheng et al., 2022). Wenn wir erleben, dass Macht, Mut oder Kompetenz nicht an ein Geschlecht gebunden sind, öffnet das Räume: für Frauen, ihre Ambitionen zu entfalten, und für Männer, neue Rollenbilder zu integrieren. Starke Frauen als Vorbilder sind also nicht nur Inspiration – sie wirken gleichzeitig wie psychologische Türöffner für mehr Gleichberechtigung.

4. Spielt es eine besondere Rolle, dass Mädchen weibliche Vorbilder haben? Und was passiert, wenn sie fehlen?
Absolut. Mädchen orientieren sich zwar auch an männlichen Vorbildern, aber Studien zeigen, dass sie sich stärker motiviert fühlen, wenn sie erfolgreiche Frauen sehen, mit denen sie sich identifizieren können (Lockwood & Kunda, 1997). Wenn solche weiblichen Vorbilder fehlen, kann das unbewusst dazu führen, dass Mädchen bestimmte Karrierewege oder Führungsrollen gar nicht erst als „ihren“ möglichen Weg wahrnehmen.
Eine Studie von Oyserman und Destin (2018) konnte zeigen, dass Vorbilder besonders dann motivierend wirken, wenn sie als erreichbar wahrgenommen werden. Mädchen brauchen also keine „Superheldinnen“, sondern reale Frauen, die zeigen: Erfolg, Mut oder Unabhängigkeit sind möglich – auch für dich.
5. In Zeiten von Social Media und gesellschaftlichem Rechtsruck: Welche Vorbilder tun uns heute wirklich gut?
Die Antwort ist simpel: authentische und vielfältige Vorbilder. Gerade Social Media überschwemmt uns mit oft unrealistischen Idealen, die mehr Druck als Inspiration erzeugen. Die psychologische Forschung zeigt, dass wir uns besonders mit Vorbildern identifizieren, die auch Schwächen und Fehler offenbaren. Dieser Effekt wird als «Pratfall-Effekt» bezeichnet: Kleine Makel machen Menschen sympathischer und motivierender (Benet-Martínez et al., 2021). Perfektion hingegen schafft Distanz.
Besonders wertvoll sind Vorbilder, die Wege aufzeigen, wie man Herausforderungen meistert, Grenzen hinterfragt oder für wichtige Werte einsteht. In Zeiten, in denen Gleichberechtigung wieder verstärkt infrage gestellt wird, brauchen wir Vorbilder, die Mut machen und gesellschaftliche Verantwortung übernehmen – Frauen, die offen über Hindernisse sprechen, sei es Diskriminierung, Selbstzweifel oder die Herausforderung, Beruf und Privatleben zu vereinbaren.
Social Media kann eine großartige Plattform für Frauen sein, um laut, unbequem und sichtbar zu sein. Das inspiriert nicht nur einzelne Personen, sondern – wie eine aktuelle Studie zeigt – geteilte Vorbilder fördern sowohl individuelles Wachstum als auch das Gefühl von Gemeinschaft und Widerstandskraft (Cheng et al., 2022). Und genau das brauchen wir heute.
Anmerkung: Dieser Artikel wurde in leicht gekürzter Form in Ausgabe 105 der Südzeit veröffentlicht. Hier der Link zur Ausgabe. Der Beitrag findet sich auf Seite 25.
Quellen
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