Achtung, es folgt eine komische Frage: Kennst du das? Du stehst auf einer Brücke, siehst nach unten und dir schießt der Gedanke durch den Kopf: Was wäre, wenn ich jetzt springen würde? Oder im Auto, auf der Landstraße und plötzlich der Gedanke: Nur eine kurze Bewegung des Lenkrads und ich würde gegen einen Baum fahren.
Tatsächlich haben diese Impulse einen Namen. Man nennt sie „the call of void“, zu Deutsch „der Ruf der Leere“ oder auch „The high place phenomenon“ auf Deutsch das „Höhen-Phänomen“. Sind das Selbstmord-Phantasien? Ist das ein Hinweis darauf, dass man suizidale Tendenzen hat?
Die Höhen-Phänomen-Gedanken sind kein Grund zur Sorge
Zuerst einmal Entwarnung: Nein, solche Gedanken sind nicht krank oder gefährlich, sondern normal. In einer der wenigen Studien dazu konnten Forschende um die Psychologin Jennifer Hames feststellen, dass mehr als die Hälfte der 431 Befragten bereits solche Gedanken gehabt hatten. Erfasst wurde dies mit folgenden drei Fragen:
- Frage 1) Wenn Sie am Rande eines hohen Gebäudes stehen oder über eine Brücke gehen, hatten Sie schon einmal den Drang zu springen? Wie oft ist das in Ihrem Leben passiert?
- Frage 2) Wenn Sie ein hohes Gebäude sehen oder auf einer Brücke gehen, haben Sie dann jemals daran gedacht, wie es wäre, von dort herunterzuspringen? Wie oft ist das in Ihrem Leben passiert?
- Frage 3) Wenn Sie sich in einem hohen Gebäude befinden, haben Sie sich schon einmal vorgestellt, aus einem Fenster zu springen? Wie oft ist das in Ihrem Leben passiert
Menschen, die Angst-sensitiver sind, haben mehr dieser Gedanken
Zudem wollten die Wissenschaftler:innen herausfinden, ob es einen Zusammenhang zwischen derartigen Gedanken, Depressionen, Selbstmordgedanken, Angst-Sensitivität und Stimmungsschwankungen gibt. Die Ergebnisse zeigten, dass es nur einen ganz leichten Zusammenhang mit dem Auftreten von Selbstmordgedanken und Depressionen gab.
Darüber hinaus fanden die Forschenden heraus, dass es einen deutlichen positiven Zusammenhang zwischen Angst-Sensitivität und Hohen-Phänomen-Gedanken gibt. Das bedeutet, dass Probanden, die empfindlicher auf Angst-bedingte Symptome wie Herzrasen, Schweißausbrüche und Schwindel reagieren, anfälliger für Höhen-Phänomen-Gedanken waren. Ähnliche Ergebnisse konnten in einer recht aktuellen Untersuchung Bochumer Wissenschaftler:innen gefunden werden (Teisman et al., 2020).
Ein Warnsystem unseres Gehirns
In ihrem abschließenden Urteil waren sich die Forschenden einig: Der Wunsch in die Tiefe zu springen ist kein Hinweis auf eine Todessensucht, sondern ein kontra-intuitiver Indikator für großen Überlebenswillen. Der Gedanke „was wäre, wenn“ ist eine Art Warnhinweis des Gehirns, der uns auf potentielle Gefahren hinweist. Sie sollen uns motivieren, uns in Sicherheit zu bringen, einen Schritt von der Brüstung zurückzutreten, in der Mitte der Brücke zu gehen und das Lenkrad ruhig zu halten. Somit kein Grund zur Sorge, sondern ein cleverer Mechanismus unseres Gehirns.
Und noch ein Hinweis: Wenn Du von Suizidgedanken betroffen bist, kontaktier doch die Telefonseelsorge (telefonseelsorge.de), gerne auch anonym. Unter der kostenlosen Hotline 0800-1110111 oder 0800-1110222 erhältst Du Hilfe von Berater:innen, die schon in vielen Fällen Auswege aus schwierigen Situationen aufzeigen konnten.
Literatur
Hames, J.L., Ribeiro, J.D., Smith, A.R., & Joiner Jr., T.E. An urge to jump affirms the urge to live: An empirical examination of the high place phenomenon. Journal of Affective Disorders 136, 1114-1120 (2012).
Teismann, T., Brailovskaia, J., Schaumburg, S., & Wannemüller, A. (2020). High place phenomenon: prevalence and clinical correlates in two German samples. BMC psychiatry, 20(1), 1-7.